120 Jahre Otto Engel, geb. 17.03.1899

Bürgermeister der Gemeinde Ranstadt von 1945 bis 1962

Am 17.03. vor 120 Jahren wurde Otto Engel geboren. Er prägte in seiner Amtszeit als Bürgermeister der Gemeinde Ranstadt von 1945 bis 1962 maßgeblich die Entwicklung des Ortes.
Man kann, ja man muss geradezu fragen: Was hat das alles mit uns heute zu tun?
In der Amtszeit des Sozialdemokraten Otto Engel und durch sein Engagement maßgeblich bestimmt entwickelte sich Ranstadt von 1945 bis 1962 von einem Bauerndorf zu einer Industriegemeinde,
die dann später Anfang der 70er Jahre als sogenanntes „Unterzentrum“ auch die Voraussetzungen dafür hatte, Kern einer Großgemeinde Ranstadt zu werden, auf die wir heute alle stolz sind.
Um diese Entwicklung zu begreifen, müssen wir uns kurz vergegenwärtigen, wie Ranstadt 1945 aussah. Damals war das fürstliche Hofgut natürlich noch bestimmender als heute. Es gab die Hauptstraße mit Häusern etwa vom heutigen Black Inn bis zum Bahnhof. Die Fläche oberhalb der Eisenbahnstrecke war damals nicht bebaut. Die dem Hofgut gegenüberliegende Hintergasse mit den beiden innenliegenden Sackgassen bildete den alten Ortskern. Darüber hinaus gab es die Schule (das heutige Rathaus)
und die Kirche. Zwischen Laisbach und Eisenbahnlinie gab es neben der Hauptstraße am Weg nach Dauernheim noch die Molkerei. In der Pforgartenstraße hatte die Gemeinde bereits in
den 20er Jahren ein Wohnhaus gebaut. Setzt man das heutige Ranstadt dagegen, so kann jeder ermessen,
wie sich der Ort seit 1945 gewandelt hat. Entweder in der Ära Otto Engel selbst. Oder durch die dynamische Entwicklung, die aus dieser Ära resultierte.
Ranstadt hatte vor dem II. Weltkrieg rund 700 Einwohner, war damals deutlich kleiner als etwa Dauernheim mit 860 Einwohnern. Am Ende der Ära Otto Engel hatte Ranstadt knapp 1.300
Einwohner. Also fast eine Verdoppelung!
Für uns Menschen, die wir heute leben, kann die unbeschreibliche Armut und Not, die 1945 herrschte, nicht begreiflich sein. Wir sollten trotzdem versuchen, daran zu erinnern.
Die Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen unmittelbar nach dem II. Weltkrieg gilt als eine der größten Leistungen des jungen neuen Deutschlands. In Ranstadt waren im Jahr 1950 unter den 1.120 Einwohnern 340 Heimatvertriebenen. Dies entspricht einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 30%. Dies war in allen Orten so. Drei Viertel der Ranstädter Neubürger kamen aus der Tschechoslowakei bzw. dem Sudetenland, ein Viertel aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße. Verladen in Viehwaggons, kamen sie im August 1946 nach mehrtägiger Bahnfahrt bei sommerlicher Hitze in überfüllten Zügen an. Sie
durften maximal 50 kg pro Person mitnehmen und bei sich tragen. Hatten sie die Tortur überstanden, warteten jetzt ganz andere Probleme auf sie.
Zu den größten und dringlichsten zählte die Wohnungsnot. In der Gemeinde Ranstadt wurde eine Wohnungskommission gebildet. Jedes Wohnhaus, ob groß oder klein, wurde besichtigt, seine Räume gezählt und nach Art und Beschaffenheit in einer Kartei eingetragen. Die Bürgermeister als Ortspolizeibehörde konnten Wohnraum beschlagnahmen. Otto Engel berichtete davon, dass er das ein oder andere Mal Wohnungssuchende mit Polizeigewalt einweisen lassen musste. Überall herrschte bittere Not. Doch die Heimatvertriebenen hatten es besonders schwer. Es fehlte an Allem. Als sie nach Ranstadt kamen, hatten Sie oftmals kaum mehr bei sich als sie am eigenen Leib tragen konnten. Im Jahr 1947 gelang es Bürgermeister Engel für Ranstadt Fördermittel aus einem hessischen Notbauprogramm zu bekommen.
Es war dadurch möglich, acht Familien zu einem eigenen Wohnhaus zu verhelfen. Jeder dieser Bauherren musste sich verpflichten, noch eine weitere Familie in einer zweiten Wohnung unterzubringen. Otto Engel beschrieb in seinen Erinnerungen, wie viel Gemeinschaftsarbeit, unter schwierigsten Verhältnissen,
hier geleistet wurde. Die Bauern übernahmen Fuhrleistungen für die Bauherren. Im Gegenzug arbeitete man bei der Ernte auf den Höfen mit. Der Bürgermeister fädelte Tauschgeschäfte ein:
Baumaterial wie Wasserleitungsrohre und Elektromaterial ließ sich oftmals nur gegen die Abgabe von Lebensmitteln bekommen.
Otto Engel organisierte Gummireifen für die Fahrzeuge zum Transport des Baumaterials oder beschaffte das Benzin. Im Jahr 1949 wurde der erste Generalbebauungsplan für die Gemeinde Ranstadt aufgestellt. Ab dieser Zeit setzte ein stetiges Ausweisen von Wohn- und Gewerbegebieten ein. Die Bautätigkeit
kann man ermessen, wenn man sich an die oben beschriebene Ausdehnung erinnert.
Im Jahr 1953 kam der für Ranstadt so wichtige Unternehmer Karl Klein mit seiner Firma Hassia hierher. Der Anfang war mehr als schwierig. Es fehlte an allem, an Räumlichkeiten, Geld, Werkzeugen und Maschinen. Die Wiege der Hassia war eine gepachtete Wagnerwerkstatt und eine Schmiedewerkstatt in der
„Oberen Sackgasse“. Der Bürobetrieb spielte sich im Hause des Bürgermeisters ab, weil es dort wenigstens ein Telefon gab. In Ranstadt begann Karl Klein zunächst als Lohnverpacker für die Arzneimittelindustrie zu arbeiten. Dank der innovativen Ideen des Firmengründers und seiner Ingenieure wurde die Firma Hassia
bald weltweit bekannt. Der heutige Standort im Heegweg wurde 1956 bezogen. Die Gemeinde schaffte durch die Ausweisung von Gewerbeflächen hierfür rechtzeitig die Voraussetzungen. Diese Expansion wäre - zumindest in dieser Geschwindigkeit - völlig undenkbar gewesen ohne die beiden für die damalige Zeit sehr
hohen Darlehen aus dem staatlichen Wiederaufbauprogramm „Hessenplan“. Otto Engel und Karl Klein hatten zahlreiche Termine bei der Hessischen Landesregierung in Wiesbaden, um Kredite für das junge Unternehmen zu bekommen. Ihre Bemühungen waren letztlich erfolgreich. Kaum noch in Erinnerung ist heutzutage, dass die Festlegung auf den Standort Ranstadt für die Hassia am Anfang zeitweise auf Messers Schneide stand. Wegen der bis zum Neubau im Heegweg in Ranstadt unbefriedigenden räumlichen
Situation spielte Karl Klein mit dem Gedanken, den Betrieb nach Altenstadt in ein leerstehendes Textilhaus umzusiedeln.
Dieses war dem Unternehmer zu günstigen Konditionen von der Kreissparkasse angeboten worden. Otto Engel schrieb dazu in seinen Erinnerungen: „Drei Tage und Nächte habe ich damals mit Herrn Klein gerungen, bis er von seinem Vorhaben abließ und mir erklärte, dass er in Ranstadt bleiben würde.“
Die Hassia wurde zur Erfolgsgeschichte. Im Jahresdurchschnitt des Jahres 1953 waren fünf Mitarbeiter beschäftigt. Im Jahr 1962 hatte Hassia an ihrem Stammsitz in Ranstadt rund 500 Mitarbeiter in Lohn und Brot. Rund ein Drittel der Beschäftigten kam aus Ranstadt. Neben der Schaffung von Arbeitsplätzen profitierte die Gemeinde ab 1955 (und bis heute) durch die Einnahmen aus der
Gewerbesteuer.
Im Jahr 1968 baute die Hassia für ihren Verpackungsbetrieb ein neues und modernes Gebäude an dem heutigen Standort in der ‚Mockstädter Höhe‘. Das Jahr 1974 bedeutete eine große Zäsur: Karl Klein verkaufte seine beiden Betriebsstätten an den Klöckner-Konzern und den Maschinenbauer IWKA. Nach einigen Wechseln der Eigentümer firmiert heute der Lohnverpackungsbetrieb in der Mocksädter Höhe als „RCP“ und der Maschinenbau im Heegweg unter der Flagge von „IMA“. Auch heute noch schaffen diese beiden Betriebe durch Lehr- und Arbeitsplätze die Existenzgrundlage für eine Vielzahl Ranstädter Familien.
Michael Strecker